Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Anne Scheller

Transfer von Konzepten für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist zwischen dem Lateinischen und den mittelalterlichen Volkssprachen, insbesondere dem Altenglischen

Anne Scheller Um 600 begann die Christianisierung der heidnischen Angelsachsen durch römische und irische Missionare. Um ihr Ziel zu erreichen, mussten sie die neue Religion den Menschen verständlich machen, d. h. sie in altenglischer Sprache erklären. Einer der zentralen Bereiche ist dabei der christliche Gott selbst. 500 Jahre später, gegen Ende der altenglischen Periode, hatte sich ein religiöses Vokabular ausgebildet, das nicht weniger als 170 verschiedene altenglische Bezeichnungen für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist kannte.

Meine Arbeit, die sich mit diesen Wörtern beschäftigt, verfolgt drei Ziele. Zum einen geht es um formale Aspekte des Transfers. Nahezu alle 170 Lexeme verdanken ihre Form und ihre Bedeutung sogenannten indirekten Lehnverfahren. Das heißt, dass entweder bereits bestehende altenglische Wörter mit einer neuen, christlichen Bedeutung versehen wurden (Lehnbedeutung; Bsp. god ‚Gott‘ nach lat. deus) oder aber Wörter nach lateinischem Muster aus altenglischem Sprachmaterial neu gebildet wurden (Lehnbildung; Bsp. scīeppend ‚Schöpfer‘ nach lat. creator). Auf Grundlage einer Psalterglosse und mit lexikographischen Hilfsmitteln möchte ich für alle Lexeme bestimmen, mit Hilfe welcher indirekten Lehnverfahren sie in die altenglische Sprache Eingang fanden.

Weiterhin untersuche ich den Verlauf des Transfers. Dieser wird unterschieden nach Motivation, Durchführung und Folgen der Übertragung der Konzepte für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist in der spezifischen sprachlichen Form des indirekten Lehnguts. Es soll ermittelt werden, warum von Gebern und Nehmern die indirekten Lehnverfahren gewählt wurden, wie das indirekte Lehngut von den Nehmern aufgenommen wurde und welche Auswirkungen der Transfer sowohl auf die angelsächsische Welt als auch auf das Christentum hatte.

Zuletzt geht es ausblickshaft um die angelsächsische Mission im altsächsischen und althochdeutschen Sprachraum. Die Frage ist, ob dort wie in England indirekte Lehnverfahren verwendet wurden und ob ein Einfluss des Altenglischen auf das Altsächsische und Althochdeutsche auszumachen ist.

Mit dieser Arbeit soll das Eindringen der Vorstellungen vom christlichen Gott in die altenglische Sprache und Literatur untersucht werden. Die Entwicklung dieser Konzepte macht die Beziehungen zwischen Sprache und außersprachlicher Welt, zwischen heidnischen und christlichen Vorstellungen deutlich und beleuchtet eine wichtige Transformation in der englischen Kulturgeschichte – die Christianisierung der Angelsachsen - vom Standpunkt der Sprache aus.

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