Johannes Frey
Spielräume des Erzählens. Figurenrede und Erzähltechniken im europäischen
höfischen Roman

Geschichten sind seit jeher
zentraler Bestandteil kultureller Wissensvermittlung. Die unterschiedlichen
Arten und Strukturen, in denen Menschen Geschichten erzählen, geben
Aufschluss über deren Kultur, Denkweise und Weltsicht. In meiner Dissertation
untersuche ich die Entwicklung des Erzählens im europäischen höfischen
Roman (
Iwein- und
Tristan-Erzählungen) und damit
die teilweise sehr verschiedenen Herangehensweisen an ein- und dieselbe
Geschichte. Im Zentrum steht hierbei die Frage, ob und inwieweit die
Form des Erzählens mit dem Stoff der Erzählung gewandert ist und inwiefern
narrative Techniken der französischen Vorlagen von den deutschen,
englischen und isländischen Wiedererzählern übernommen wurden. Das
heißt: wie verändern sich Geschichten in anderen Kulturräumen, und
wie verändern sich deren Erzählmuster, um fremde Geschichten erzählen
zu können? Wie muss ein deutscher, und wie ein isländischer Autor
seine Erzählgewohnheiten verändern, damit Sinn und Struktur einer
französischen Erzählung dem Verständnishorizont des heimischen Publikums
entsprechen und von diesem verstanden werden?
Meine Untersuchung konzentriert sich auf die Mikrostrukturen des (Wieder-)Erzählens,
insbesondere die narrativen Funktionen der Figurenrede im Textgefüge
der Geschichte. Sie analysiert das narratologische Verhältnis zwischen
Figurenrede und Erzählerbericht und vergleicht die Art und Weise,
in der die Dichter ihre Figuren für textbedingte Zwecke (Handlungsmotivation,
Textaufbau und -entwicklung) und Erzählarbeit (Beschreibungen, Erklärung
sinnstiftender Hintergründe und Zusammenhänge) verwenden.
Einhergehend mit den unterschiedlichen Erzählzielen der Dichter zeigt
sich, wie verschieden eine inhaltlich gleiche Geschichte erzählt werden
kann. Dies beschränkt sich keineswegs auf offenkundige Veränderungen
wie die Übersetzung der altfranzösischen Endreimpaardichtung in altnordische
Prosaerzählung, sondern erstreckt sich auf den Gebrauch des Reimes
(als kommentierter Übergang bei Chrétien bzw. als Zeichen des
Abschlusses bei Hartmann), auf den narrativen Status der Figuren (als
eigenständige Informationsvermittler bei Chrétien im Gegensatz
zum alleinwissenden Erzähler bei Hartmann) oder die Verwendung bestimmter
Motive und Bildlichkeiten für erzählstrategisch vollkommen unterschiedliche
Ziele. Die Untersuchung wird die verschiedenen Erzählstile zunächst
klar voneinander abgrenzen und dann versuchen, Gemeinsamkeiten der
Erzähler eines Sprachraumes bzw. Eigenheiten des europäischen Phänomens
'Artusliteratur' zu bestimmen. Sie wird Aufschluss darüber
geben, welche Erzähltechniken Hartmann von Chrétien bzw. Gottfried
oder Bruder Robert von Thomas übernommen (in einigen Fällen wohl auch
gelernt) haben, und wo und warum sie sich den Vorgaben der Vorlagen
verweigerten.
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