Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Johannes Frey

Spielräume des Erzählens. Figurenrede und Erzähltechniken im europäischen höfischen Roman

Johannes Frey Geschichten sind seit jeher zentraler Bestandteil kultureller Wissensvermittlung. Die unterschiedlichen Arten und Strukturen, in denen Menschen Geschichten erzählen, geben Aufschluss über deren Kultur, Denkweise und Weltsicht. In meiner Dissertation untersuche ich die Entwicklung des Erzählens im europäischen höfischen Roman (Iwein- und Tristan-Erzählungen) und damit die teilweise sehr verschiedenen Herangehensweisen an ein- und dieselbe Geschichte. Im Zentrum steht hierbei die Frage, ob und inwieweit die Form des Erzählens mit dem Stoff der Erzählung gewandert ist und inwiefern narrative Techniken der französischen Vorlagen von den deutschen, englischen und isländischen Wiedererzählern übernommen wurden. Das heißt: wie verändern sich Geschichten in anderen Kulturräumen, und wie verändern sich deren Erzählmuster, um fremde Geschichten erzählen zu können? Wie muss ein deutscher, und wie ein isländischer Autor seine Erzählgewohnheiten verändern, damit Sinn und Struktur einer französischen Erzählung dem Verständnishorizont des heimischen Publikums entsprechen und von diesem verstanden werden?

Meine Untersuchung konzentriert sich auf die Mikrostrukturen des (Wieder-)Erzählens, insbesondere die narrativen Funktionen der Figurenrede im Textgefüge der Geschichte. Sie analysiert das narratologische Verhältnis zwischen Figurenrede und Erzählerbericht und vergleicht die Art und Weise, in der die Dichter ihre Figuren für textbedingte Zwecke (Handlungsmotivation, Textaufbau und -entwicklung) und Erzählarbeit (Beschreibungen, Erklärung sinnstiftender Hintergründe und Zusammenhänge) verwenden.

Einhergehend mit den unterschiedlichen Erzählzielen der Dichter zeigt sich, wie verschieden eine inhaltlich gleiche Geschichte erzählt werden kann. Dies beschränkt sich keineswegs auf offenkundige Veränderungen wie die Übersetzung der altfranzösischen Endreimpaardichtung in altnordische Prosaerzählung, sondern erstreckt sich auf den Gebrauch des Reimes (als kommentierter Übergang bei Chrétien bzw. als Zeichen des Abschlusses bei Hartmann), auf den narrativen Status der Figuren (als eigenständige Informationsvermittler bei Chrétien im Gegensatz zum alleinwissenden Erzähler bei Hartmann) oder die Verwendung bestimmter Motive und Bildlichkeiten für erzählstrategisch vollkommen unterschiedliche Ziele. Die Untersuchung wird die verschiedenen Erzählstile zunächst klar voneinander abgrenzen und dann versuchen, Gemeinsamkeiten der Erzähler eines Sprachraumes bzw. Eigenheiten des europäischen Phänomens 'Artusliteratur' zu bestimmen. Sie wird Aufschluss darüber geben, welche Erzähltechniken Hartmann von Chrétien bzw. Gottfried oder Bruder Robert von Thomas übernommen (in einigen Fällen wohl auch gelernt) haben, und wo und warum sie sich den Vorgaben der Vorlagen verweigerten.

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